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"An diesen Fragen muss ich dranbleiben!"

Ethik ist vielfältig, relevant und hochaktuell - im Interview erzählt Prof.in Dr. Kristina Kieslinger über die Faszination für ihr Fachgebiet, die Relevanz für Studierende und was Ethik mit dem Klimawandel zu tun hat.

Prof.in Dr. Kristina Kieslinger lehrt seit dem Wintersemester 2022/23 als Professorin für Ethik an der KH Mainz. (© KH Mainz)

Zum Wintersemester 2022/23 hat Professorin Dr. Kristina Kieslinger den Ruf auf die Romano-Guardini Professur für Ethik an der KH Mainz erhalten. Mit der Überreichung der vom Mainzer Bischof Peter Kohlgraf unterschriebenen Urkunde zur Verleihung des Titels der Professorin im Kirchendienst erfolgte Anfang März ihre Professorierung. Ein guter Anlass, um das Fachgebiet und die Arbeitsschwerpunkte von Kristina Kieslinger einmal näher vorzustellen.

Frau Kieslinger, Sie haben in Moraltheologie promoviert und sind nun als Professorin für Ethik an der KH Mainz tätig. Können Sie uns kurz erklären, mit was sich Moraltheolog*innen und Ethiker*innen inhaltlich beschäftigen? Oder anders gefragt: Was ist eigentlich Moraltheologie und was ist Ethik?

Als Ethikerin beschäftige ich mich mit allem, was Menschen in ihrem Alltag tun und erleben. Da spannt sich ein sehr weites Feld auf, denn das beginnt bei A wie ‚Assistierter Suizid‘ geht über K wie ‚Klimawandel‘ und endet bei Z wie ‚wohltätiger Zwang‘. Als Reflexionstheorie geht Ethik gewissermaßen einen Schritt zurück und fragt: „Wie soll ich handeln?“ Aber auch: „Wer will ich sein?“ Und mit Blick auf das soziale Zusammenleben beschäftigt sie sich mit der Frage: „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?“ Das kann Ethik nur schlecht alleine leisten, deswegen ist sie eine sogenannte Brückenwissenschaft, die sich auf die Erkenntnisse aus Medizin, Psychologie, Soziologie usw. beziehen muss, um wirklich verantwortet Orientierung bieten zu können.

Die Moraltheologie – oder auch Theologische Ethik genannt – stellt sich genau diese Fragen vor dem Horizont des Glaubens: Wie wirkt sich die Überzeugung, dass sich eine transzendente Wirklichkeit (‚Gott‘) in Jesus Christus uns Menschen aus Liebe geschenkt hat, auf das Sein und Handeln des Menschen aus? Welche Konsequenzen hat das christliche Menschenbild für unser Zusammenleben?

Wie sind Sie persönlich zur Ethik gekommen? Was ist für Sie das Spannende an dieser Wissenschaft?

Als ich im Studium ein Seminar zur Bioethik belegte, war für mich klar: An diesen Fragen muss ich dranbleiben! Der (theologischen) Ethik geht es um den Menschen und darum, wie das Leben des Einzelnen, aber auch der Gemeinschaft gelingen kann. Das betrifft ganz existentielle Fragen, es geht ans ‚Eingemachte‘ – und das nicht nur bei den moralischen ‚Hotspots‘ wie Schwangerschaftsabbruch und Organspende, sondern auch bei ethischen Fragen, die Gruppen betreffen, die wir in der öffentlichen Wahrnehmung weniger auf dem Schirm haben: Menschen in Gefängnissen und mit Suchterkrankungen, die einsam sind oder gar in einer suizidalen Krise stecken.

Mich fasziniert immer wieder, wie vielfältig Ethik ist. Romano Guardini hat es wunderbar beschrieben: „Das Sittliche ist keine Spezialangelegenheit neben anderen. Die ganze Wirklichkeit bildet den Stoff des Sittlichen. Alles, was es gibt, ist sein Inhalt.“¹ Das gilt nicht nur für die Inhalte und Themen, sondern auch für die Zugänge zu ethischem Nachdenken.

Sie lehren an der KH in allen drei Fachbereichen. Warum sollte Ethik Teil der sozialprofessionellen Ausbildung sein?

Ich nehme bei den Studierenden aller Fachbereiche eine hohe Motivation wahr, in einen ‚helfenden‘ Beruf zu gehen. Doch wo viel brennt, verbrennt auch viel. Da kann die Perspektive der (theologischen) Ethik, einen Schritt zurückzutreten und zu reflektieren, eine sehr hilfreiche sein: Was ist meine Motivation? Was heißt für mich eigentlich helfen? Und welche Rolle spielt meine Haltung für mein Verhalten? Aber auch: Welche Rolle spielt meine Professionalität dabei? Aus dem Reflex und den oft unhinterfragten Verhaltensmustern auszusteigen, und zur Reflexion zu kommen, um damit das eigene Handeln bewusst gestalten zu können, ist mir dabei ein Anliegen.

Mir ist es wichtig den Blick nicht nur auf das Handeln der Fachkräfte zu legen, sondern auch zu reflektieren, welche sozialethischen Fragen zu den Rahmenbedingungen in den sozialprofessionellen Berufen gestellt werden müssen. Ethik bietet vielfältige Zugänge, um darüber nachzudenken. Einerseits empfinde ich es als Luxus, sich diese Zeit nehmen zu können. Anderseits ist es meiner Ansicht nach auch eine absolut drängende Notwendigkeit, wenn die berufliche Tätigkeit reflektiert und verantwortlich ausgeführt werden will.

Ein Schwerpunkt Ihrer Arbeit sind die Themen Nachhaltigkeit und Klimagerechtigkeit. Wie würden Sie Nachhaltigkeit definieren und welchen Beitrag kann die Ethik eigentlich im Kampf gegen den Klimawandel und für mehr Nachhaltigkeit leisten?

Das Konzept der Nachhaltigkeit beinhaltet drei Säulen: ökologisch, ökonomisch und sozial. In der Wissenschaft gibt es bis heute keine genaue Festlegung, was diese drei Dimensionen genau beinhalten und auch deren Verhältnisbestimmung zueinander ist schwierig. Der Wert des Nachhaltigkeitsbegriffes liegt darin, dass er gewissermaßen ein Scharnier zwischen unterschiedlichen Diskursen und Perspektiven darstellt: Geht der Fokus zu sehr auf wirtschaftliche Interessen, sollten die sozial-ökologischen Fragestellungen zum Tragen kommen; wird zu einseitig auf den Klimaschutz geschaut, sollte ebenfalls ein Ausgleich erfolgen usw. Schwierig daran ist, dass der Begriff mittlerweile so inflationär benutzt wird, dass er niemandem mehr weh tut.

Ich muss gestehen, dass ich lieber den Begriff der sozial-ökologischen Transformation verwende, der zwar auch schon fast beliebig gefüllt werden kann, aber doch deutlich macht: es geht um einen tiefgreifenden Wandel in allen Bereichen des gesellschaftlichen Zusammenlebens – auf nationaler und internationaler Ebene. Mit ein bisschen weniger Autofahren und etwas mehr Müll trennen ist es nicht getan. Es geht um einen Bewusstseinswandel, der sich im Handeln niederschlägt. Am schönsten und prägnantesten hat es für mich Papst Franziskus in seiner Enzyklika ‚Laudato sí‘ zum Ausdruck gebracht: „Alles ist miteinander verbunden. Darum ist eine Sorge für die Umwelt gefordert, die mit einer echten Liebe zu den Menschen und einem ständigen Engagement angesichts der Probleme der Gesellschaft verbunden ist.“ (LS 91)

Was nun die Ethik dazu beitragen kann, ist eine hochspannende aber ebenso ausladende Frage. Ich will versuchen zu skizzieren, was mir dabei wichtig ist: Ethik bietet zunächst keine Lösungen an, sie ist eine Reflexionswissenschaft. Für mich liegt ihr Wert vor allem darin zu hinterfragen, also Vorannahmen über Mensch und Mitwelt, Haltungen, Verhaltensweisen und Strukturen auf den Prüfstand zu stellen und sich damit auseinandersetzen: „Muss das so sein?“ Als Beispiel fällt mir hier sofort das Setzen auf technische Lösungen ein und der Versuch Geräte immer effizienter zu machen (was leider aufgrund von Rebound-Effekten weniger Wirkung zeigt als erhofft). Hier das Konzept der Suffizienz ins Spiel zu bringen, würde für mich die Brücke vom Setzen anderer Vorannahmen hin zu besseren Entscheidungen schlagen, also konkret: Zu prüfen, was ich zum guten Leben wirklich brauche (lat. suffizere: ausreichen, genügen) und welche politischen Rahmenbedingungen es benötigt, damit ich meinen Lebensstil derart gestalten kann. Hier wird sehr deutlich, dass Ethik interdisziplinär arbeiten muss, um die Komplexität der Herausforderungen ansatzweise bewältigen zu können.

Nachhaltigkeit ist auch das Jahresthema 2023 der KH Mainz und ein wichtiges Thema der Hochschulentwicklung, für das Sie sich engagieren. Welche Ansätze und Aktivitäten gibt es, um die KH auf dem Weg zur nachhaltigen Hochschule voranzubringen?

Theoretisch gibt es mittlerweile viele wunderbare Ansätze, um Nachhaltigkeit/Klimaschutz und Soziales zusammenzudenken. Praktisch machen sich auch die Sozialwirtschaft und die Wohlfahrtspflege auf den Weg, die sozial-ökologische Transformation mitzugestalten. Da können wir uns als Hochschule auch etwas abschauen, damit das Rad nicht immer neu erfunden werden muss – auch das spart Energien. Vernetzung ist hier das Zauberwort.
Bei der Umsetzung sehe ich noch Luft nach oben. Das liegt sicher daran, dass die letzten Jahre durch verschiedene Krisen genug gebeutelt waren. Es geht aber für mich darum zu erkennen, dass die sozial-ökologische Transformation kein Thema neben anderen ist, das wir ‚auch noch‘ machen müssen, sondern alle Bereiche durchdringt.

Ganz konkret gibt es im Sommersemester eine sog. ‚Brown-Bag-Session‘ mit dem Titel ‚KH meets Klimaschutz‘, die ich mit unserem Kanzler gestalten werde: Es geht darum, Ideen und Visionen der Studierenden und Mitarbeitenden zu sammeln, um dann auch in die Umsetzung zu kommen. Für das Wintersemester ist ein Fachnachmittag ‚Sozial-ökologische Transformation‘ geplant, um auch von wissenschaftlicher Seite und aus den verschiedenen Perspektiven der Fachbereiche in den Austausch zu kommen.

¹  Guardini, Romano, Das Gute, das Gewissen und die Sammlung, Mainz: Matthias-Grünewaldverlag 1952, 27.